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Bewertung von Zinsderivaten in Eigenregie

Strawberry_Cake“Piece of cake” – sagt der Amerikaner gern, wenn er meint, dass sich etwas problemlos bewerkstelligen lässt. “Piece of cake” glauben auch viele, wenn es um die Bewertung von Derivaten geht. Nur täuschen sie sich da gewaltig.

Weshalb ist die Bewertung eines Zinsderivats so kompliziert? Was benötigt man dafür eigentlich?

Besonderheiten von Zinsderivaten

Wenn ich mit branchenfremden Gesprächspartnern über die Bewertung von Zinsderivaten spreche, höre ich oft Sätze wie: “Wie, da weiß jemand nicht, ob seine Derivatposition gerade profitabel ist oder nicht? – Wenn ich eine Aktie kaufe, dann kann ich doch auch berechnen, welchen Gewinn oder Verlust ich bislang gemacht habe!”

Ich entgegne dann immer, dass das bei Derivaten nicht so einfach sei und es gewaltige Unterschiede zu klassischen Anlageformen wie Aktien oder Anleihen gebe:

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Komponenten des ökonomischen Erfolgs bei Zinsderivaten

Während die Erfolgsbeurteilung einer Aktienanlage in Form einer schlichten Rechnung à la “aktueller Kurs minus Einstiegskurs plus vereinnahmte Dividenden” durchgeführt werden kann, sind bei einem Zinsderivat grundsätzlich zwei Erfolgskomponenten zu berücksichtigen:

  1. der Saldo aller in der Vergangenheit geleisteten und empfangenen Zahlungen, die mit den jeweiligen Fixing-Terminen unabänderlich feststehen
  2. der gegenwärtige Barwert aller noch ausstehenden Zahlungen, der von der Marktentwicklung abhängt

Der Anteil beider Komponenten am ökonomischen Erfolg verschiebt sich über die Lebensdauer des Derivats: Direkt nach Geschäftsabschluss wird der Erfolg ausschließlich durch die zweite Komponente (Barwert) bestimmt. Mit jedem Zahlungsaustausch während der Laufzeit verlagern sich Teile des jeweils aktuellen Barwertes auf die erste Komponente (Saldo geflossener Zahlungen), bis schließlich der Barwert bei Fälligkeit null beträgt und der ökonomische Erfolg ausschließlich durch den Saldo der vergangenen Zahlungsströme bestimmt wird.

Während ein Kontrahent die vergangenen Zahlungen aus Komponente 1 direkt aus den Buchungen auf seinem Konto und den Fixing-Mitteilungen der Bank erkennen kann, stellt die Ermittlung des Barwertes eine meist unüberwindbare Hürde dar.

Dieser Sachverhalt ist besonders deshalb brisant, weil der Barwert wie zuvor beschrieben gerade in der frühen Phase die dominierende Komponente des ökonomischen Erfolgs darstellt. Die einfacher ermittelbare Komponente der bereits geflossenen Zahlungen bekommt erst in der Spätphase eine Aussagekraft. Daraus ergeben sich folgende wichtige Konsequenzen:

  • Ein Kunde kann die ökonomische Vorteilhaftigkeit eines Derivats erst in der Spätphase erkennen, wenn der Barwert eine untergeordnete Rolle spielt und der Großteil der Zahlungen bereits geflossen ist – dann ist es allerdings zu spät, um einen eventuellen Verlust abzuwenden.
  • Gerade bei Abschluss eines Derivatgeschäfts hat ein Kunde kaum Möglichkeiten zu überprüfen, ob und wie stark die Bank ihn durch eine sog. einstrukturierte Marge übervorteilt. Ob eine grundsätzliche Pflicht der Bank besteht, ihren Kunden explizit auf einen negativen anfänglichen Barwert hinzuweisen, ist eine regelmäßige Streitfrage bei Schadensersatzklagen nach Derivatverlusten.
  • Kunden neigen naturgemäß dazu, eine Erfolgsprognose auf Basis derjenigen Informationen abzugeben, die auch für sie einfach ermittelbar sind. Daher glauben viele Kontrahenten, ein Derivat sei vorteilhaft, wenn sie an den ersten Zahlungsterminen von der Bank mehr Geld erhalten als sie zahlen.
    Banken nutzen diese Fehleinschätzung mitunter aus, indem sie die Zahlungsströme so gestalten, dass in den ersten Phasen auf jeden Fall ein kleiner Gewinn für den Kunden anfällt. Im Fachjargon wird dies als “Teaser Coupon” oder “Teaser Rate” bezeichnet.
    Dass diesen bescheidenen Anfangsgewinnen ein vielfach höherer negativer Marktwert gegenübersteht, der sich erst später zahlungswirksam entlädt, ist dem Kunden dabei nicht bewusst.
  • Problematisch in diesem Zusammenhang sind auch sog. “Restrukturierungen”. Will ein Kontrahent vor Ende der vorgesehenen Laufzeit aus einem Derivat aussteigen, das für ihn bereits einen negativen Marktwert hat, so muss er der Bank als Ausgleich diesen Barwert bezahlen. Stattdessen bieten Banken jedoch häufig an, dass die Verluste in einen Neuabschluss eines weiteren Derivats wieder eingebaut werden.
    Abgesehen davon, dass viele Kunden fälschlicherweise annehmen, ihnen sei dank der Restrukturierung überhaupt kein Verlust entstanden, ergibt sich das Problem, dass das gesamte noch ausstehende Ergebnis des alten Abschlusses mit in den Barwert des neuen Abschlusses eingebaut wird. Mit dieser Ergebnisvermischung verliert der Kunde aber zunehmend die Übersicht über die Kosten seiner Derivatengagements. Zudem ist nach der Restrukturierung wiederum allein der Barwert die entscheidende Erfolgskomponente – also genau die Größe, die ein Laie nicht selbständig beobachten kann.

Voraussetzungen zur Barwertermittlung

Nachfolgend wird die “Minimalausstattung” beschrieben, die man zur Bewertung eines Derivats benötigt. Grundsätzlich verhält es sich beim Pricing nicht anders als beim Kochen: Man benötigt Zutaten (Marktdaten), Rezepte (Algorithmen und Bewertungsverfahren) und Kochgeräte (Soft- und Hardware).

Marktdatenzugang

Selbst die Barwertermittlung eines einfachen 7-jährigen Zinsswaps erfordert die simultane Kenntnis von über 50 verschiedenen Zinssätzen und Futures-Kursen. Da diese Preisinformationen anders als bei Aktienkursen nicht kostenlos aus öffentlichen Quellen beziehbar sind, muss man ein Abonnement bei Spezialanbietern wie Reuters oder Bloomberg abschließen.

Kostenpunkt dieser Maßnahme: rund 24.000 USD im Jahr. Dabei handelt es sich jedoch nur um den Basispreis des Abonnements. Es werden i.d.R. noch weitere Gebühren für die Freischaltung von Preisquellen bei Börsen und Brokern fällig. Wer darüber hinaus noch Echtzeitdaten benötigt, muss mit deutlich höheren Gebühren rechnen.

Mittlerweile ist sogar die zeitnahe Überprüfung von Fixing-Bestätigungen der Banken nur noch eingeschränkt möglich, wenn man nicht ein Abonnement abschließt, was mindestens weitere 500 EUR im Jahr für eine Einzelplatzlizenz kostet.

Bewertungs-Software

Um aus den Marktdaten Forward-Sätze und Diskontfaktoren zu erzeugen und um die Zahlungtermine und -beträge aus den entsprechenden Derivatparametern abzuleiten, bedarf es zudem einer besonderen Software. Auch hier muss auf Spezialanbieter wie Murex, Calypso u.ä. zurückgegriffen werden. Die Kosten sind hier nur schwer abzuschätzen, da die Lizenzen individuell verhandelt werden. Großbanken entrichten jedes Jahr ein- bis zweistellige Millionenbeträge für ihre Nutzungslizenz. Zwar gibt es mit der QuantLib eine erstklassige kostenlose quelloffene Alternative, für ihre Nutzung sind jedoch umfangreiche Produkt- und Programmierkenntnisse erforderlich, die nur die wenigsten Anwender mitbringen.

I.d.R. erfordert eine solche Software, dass auch ein Datenbank-Server vorhanden ist. Und mit Datenbank ist nicht etwa Microsoft Access – oder schlimmer noch die missbräuchliche Verwendung von Excel als Datenbank – gemeint, sondern eine echte Datenbank. Kostenpunkt für kommerzielle Lösungen wie Sybase oder Oracle: mindestens ein vierstelliger Betrag pro Jahr. Auch hier gibt es natürlich erstklassige quelloffene Alternativen (z.B. PostgreSQL oder mongoDB) – allerdings gelten dieselben Einschränkungen wie bei der quelloffenen Bewertungssoftware.

Implementierungsberatung

Ferner weit verbreitet ist die Vorstellung, dass eine derartige Bewertungs-Fabrik so funktioniert, wie der gute alte VW-Käfer. Kaufen – reinsetzen – Zündschlüssel umdrehen. Und er läuft und läuft und läuft. Diese Vorstellung ist übrigens auch auf Seiten der Banken weit verbreitet – jedenfalls dann, wenn man mit Vorstands- oder vorstandsnahen Ebenen spricht. Die beschweren sich nämlich regelmäßig über ausufernde IT-Budgets, weil sie sich niemals in die Niederungen ihrer Bewertungs-Fabriken begeben mussten, gleichzeitig aber kein Problem damit haben, als jährliche Zielvorgabe für den Derivathandel einen dreistelligen Millionenbetrag zu veranschlagen.

Leider verhält es sich bei der zuvor aufgeführten Software etwas anders als beim VW Käfer. Es ist nicht etwa so, als würde man Windows auf seinem heimischen PC installieren. Nach dem Erwerb der Lizenz sollte man sich auf eine lange Implementierungsphase einrichten, bei der Außenberater der Softwarehersteller die Software auf den Kundenrechnern einrichten und konfigurieren müssen. Das klingt sehr entgegenkommend und bequem, nur leider hat dieses Entgegenkommen natürlich auch einen Preis: fliegen die Berater – ob für die Ersteinrichtung oder wegen Problemen im laufenden Betrieb – ein, dann sind Tagesgagen von 5’000 EUR keine Seltenheit.

Ein Nutzer in einem Forum für Derivathändler führt hierzu aus:

If you have people who successfully implemented one of these products, then go for it. Else, you will pay K€ / even M€ to get simple things working. (licensing cost and consulting, and implementation and …)

Alternativen

Budget Software und Online Lösungen

Mittlerweile existiert eine ganze Menge semi-professioneller Software- und Online Lösungen, die für sich beanspruchen, eine kostengünstigere Bewertung und Verwaltung von Derivatbeständen zu ermöglichen.

Nach meiner persönlichen Erfahrung können alle diese semi-professionellen Lösungen letztendlich nicht überzeugen. Meist bieten die aus diesen Systemen ermittelten Barwerte bestenfalls einen groben Anhaltspunkt, weil die Bewertungskurven unzulänglich modelliert werden, veraltete oder unvollständige Marktdaten verwendet werden oder die Parametrisierungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um die Derivate detailgenau zu erfassen.

Externe Beratung

Selbst wenn die Billiganbieter (und “billig” ist hier relativ zu verstehen – auch hier bewegt sich ein Jahresabonnement problemlos im Bereich von 25 Tsd. EUR) diese Unzulänglichkeiten irgendwann überwinden können und Software-Lösungen vorliegen, die mit den heutigen professionellen Systemen vergleichbar sind, bleibt immer noch die wichtigste Einschränkung: Ohne die entsprechende Expertise des jeweiligen Nutzers taugt die beste Software nichts. Ein sinnvoller Einsatz einer solchen Software setzt eine jahrelange finanzmathematische Spezialausbildung und tausende von Stunden im praktischen Umgang mit Derivaten voraus.

Da Unternehmens-Treasurer, Controller und Kämmerer sich nicht den ganzen Tag mit der Bewertung von Zinsderivaten beschäftigen können, scheint es somit am sinnvollsten, auf entsprechende Spezialberater zurückzugreifen. – Nur sollte man dann darauf achten, dass die jeweiligen Spezialberater auch wirklich über die nötigen Instrumente und die Expertise verfügen.
Im Beratungsmarkt tummeln sich jede Menge Feld-, Wald- und Wiesenberater (mal mit, mal ohne Doktortitel), die von sich glauben oder behaupten, eine solche Beratung anbieten zu können, weil sie mal BWL studiert oder eine Ausbildung als Bankkaufmann abgeschlossen haben. Prüfen Sie daher sorgfältig, ob die beworbene Expertise tatsächlich vorhanden ist.

Komplexität eines Derivats

Angesichts des zuvor dargestellten Aufwands, der betrieben werden muss, um ein angemessenes Instrumentarium für die Bewertung und das Risikomanagement von Derivatportfolien bereitzuhalten, wirkt die Einteilung in “komplexe” und “weniger komplexe” Derivate aus der Perspektive eines Endkunden geradezu absurd.

Derartige Abgrenzungsversuche werden allerdings regelmäßig von beklagten Banken in Derivatprozessen praktiziert. Sie haben das Ziel, die Gerichte davon zu überzeugen, dass das Geschäft eines Klägers nicht mit dem Derivat vergleichbar sei, was dem sog. “Ille-Urteil” des BGH aus dem Jahr 2011 zugrunde lag. Durch diese gezielte Verharmlosung der Komplexität von Zinsderivaten wird den Gerichten suggeriert, dass ein strittiges Zinsderivat ja so transparent sei, dass der Kunde z.B. auch problemlos selbst eine ansonsten offenlegungspflichtige Übervorteilung durch einen anfänglichen negativen Marktwert hätte erkennen können (siehe hierzu meinen Beitrag zu “einfach strukturierten” Derivaten).